Jährlich nimmt der Israelsonntag das Miteinander zwischen Christen und Juden in den Blick. Aspekte der Trauer, der Versöhnung und die bleibende Aufgabe des Friedens nach dem Holocaust sind wichtig. Dieses Jahr lag ein zusätzlicher Augenmerk auf der Ukraine. Pfarrerin Antje Müller, die beiden jüdischen Vertreter Wolfgang Elias Dorr und Dr. Christoph Simonis gestalteten zum Israelsonntag am 22. August 2022 gemeinsam mit Jugendlichen der Realschule plus Bad Ems-Nassau und geflüchteten Frauen aus der Ukraine den Gottesdienst.
Den zahlreichen Gottesdienstbesuchern in der Thomaskirche brachte Antje Müller den Zusammenhang nahe: Die Ukraine ist ein Land, das im Rahmen des zweiten Weltkriegs besonders von der Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen durch die Nationalsozialisten betroffen war. Heute leben dennoch wieder viele jüdische Bürger in dem Land – so sind beispielsweise Präsident und Regierungschef jüdisch -, auch viele Ältere, die noch von Krieg und Ermordung berichten können. Mit dem Angriffskrieg Russlands erlebt das Land nun erneut Szenarien, die sich niemand vorstellen konnte.
So berichtete Nataliia Melnyk in eindrücklichen Worten – übersetzt von Tatjana Kotykov – von ihren Eindrücken und ihrer Flucht. „Wir haben Freunde, die sind Juden und haben Angehörige durch Krieg und Ermordung verloren. Ich kannte die Berichte der Älteren vom Krieg, sie haben mich zu Tränen gerührt. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, so etwas zu erleben. Am 23. Februar 2022 sind wir friedlich schlafen gegangen. Um fünf Uhr morgens weckte mich der Anruf meines Sohnes. Er berichtete von den Angriffen in den Vororten von Kiew.“ Ihre Stimme wurde leise, als sie von Bomben, Bunkern, Willkür, Mord und Vergewaltigung wie zum Beispiel in Bucha sprach. Auch die Übersetzerin stieß an ihre Grenzen. Und immer noch würden sie und andere Geflüchtete solche Bilder über soziale Medien erreichen. „Das Volk leidet“, sagte Melnyk.
Zu acht, vier Frauen, vier Kinder bzw. Jugendliche, seien sie dann in einem Auto geflohen und hätten die 2300 Kilometer bis Frücht in 6 Tagen mit Zwischenstopps zum Ausruhen bei helfenden Menschen bewältigt. „Aber auf der Flucht und hier in Frücht habe ich anderes erlebt: Menschen, die helfen. Es gibt mehr gute als böse Menschen!“
Gläubige Christen wie Juden sehen sich immer wieder der Behauptung ausgesetzt, ihre Religion sei der Grund für kriegerische Auseinandersetzung, fördere sogar böses Handeln von Menschen. Kann Religion überhaupt Frieden bringen? Oder: wieso lässt Gott es zu, dass sich Menschen im Namen der Religion Gewalt antun? Dieser Frage ging Pfarrerin Müller in der Predigt nach. Sie beantwortete die Frage nach einer friedenbringenden Funktion von Religion eindeutig mit „ja“ und verwies dabei auf alt- wie neutestamentliche Texte, die immer ein Rückbindung des Handelns an Gottes Willen fordern. Jesus habe es auf den Punkt gebracht, der Ausfluss des höchsten Gebotes, der Gottesliebe, folge die Nächstenliebe aus Respekt und Verantwortung gegenüber dem Mitgeschöpf als Werk Gottes. Eine religiöse Einsicht, der Juden wie Christen folgen. Insofern sei die gestellte Frage zu berichtigen: Mensch, warum lässt du zu, dass du dich selbst gegen deine Mitmenschen wendest? Krieg müsse nicht sein. Er ist falsch verstandenes menschliches Handeln und nicht gottgewollt. Das jüdische Wort für Frieden, Shalom, sei folgerichtig viel weitgreifender: Es beschreibe nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern den allgemeinen Zustand eines Wohlergehens für die ganze Schöpfung. Diese Vision beschreibt schon der Prophet Jeremia, der Gottes Botschaft weitergibt: „Ich habe Gedanken des Friedens für euch.“ (Jer 29,11) Simonis ergänzt ein Gebet, das aus interreligiöser Begegnung zum Wunsch nach Frieden/Shalom entstanden ist. Gemeinsam mit Dorr spendete Müller zum Abschluss den aaronitischen Segen, dessen letztes Wort übrigens auch Shalom/Frieden ist, in Deutsch und der Sprache Jesu, Aramäisch.
Zur Verdeutlichung der Themenschwerpunkte hatte Organistin Hannelore Syre sogar die israelische und die ukrainische Nationalhymne eingeübt. Angela Gönemann und Christine Münch unterstützten mit ihrem Gesang die Liedauswahl in hebräischer und deutscher Sprache. Melina Müller und Malin Müller sprachen übergreifende Fürbitten für den Frieden in den vom Krieg gebeutelten Ländern, baten um Versöhnung und gegenseitiges Verständnis zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Menschen.